Vergrößernde Sehhilfen, wenn die Brille nicht mehr reicht: Augenoptikermeisterin Gülsah Adali im Gespräch
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Es gibt eine Reihe von Augenerkrankungen, bei denen selbst eine Brille – gleich welcher Stärke – kein gutes Sehen mehr zulässt. Betroffene können dann weite Teile ihres Alltags nicht mehr ohne Weiteres bewältigen. Doch es gibt vielfältige Abhilfe: Low Vision heißt der Bereich, in dem vergrößernde Sehhilfen zum Einsatz kommen. Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen greifen zum Beispiel auf Lupen, Lupenbrillen oder elektronische Sehhilfen zurück.
Augenoptikermeisterin Gülsah Adali verfügt nicht nur über umfassendes Fachwissen, sondern nimmt sich auch viel Zeit dafür, dieses zu vermitteln. Denn sie hat sich auf einen Bereich spezialisiert, in dem Optik und Medizin nah beieinander liegen: Viele Menschen, deren Sehvermögen nicht mehr ausreicht, um Zeitung zu lesen oder sich sicher zu orientieren, leiden an Augenerkrankungen. Hier gilt es genau zuzuhören und mit Sorgfalt und einer gewissen Kreativität persönliche Lösungen zu entwickeln.
Die 3 häufigsten Irrtümer über eingeschränktes Sehvermögen
„Viele unserer Kundinnen und Kunden kommen direkt von der Augenarzt-Praxis zu uns“, berichtet Adali. „Das ist auch sinnvoll, denn als Optiker stellen wir keine medizinischen Diagnosen. Umgekehrt raten wir immer zu ärztlicher Abklärung, wenn uns ein Sehtest Hinweis darauf gibt, dass eine Augenkrankheit Grund für Fehlsichtigkeit ist.“ Ausführliche Aufklärung hilft, das notwendige Verständnis für das Thema Sehhilfen zu schaffen. Die häufigsten Fehlannahmen, denen sie begegnet, sind:
Ein Sehtest findet immer ohne Brille statt
Fehlsichtigkeit wird in Prozent gemessen
Eine vergrößernde Sehhilfe ist ein kosmetisches Problem
„Beim Sehtest gibt es schnell einen Aha-Effekt“, berichtet Adali. „Als erstes bitte ich darum, eine bestkorrigierende Brille aufzusetzen, denn eine Sehhilfe leistet ihren Beitrag über die Sichtkorrektur hinaus.“ Auch der Sehtest selbst weicht vom Standard ab: „Statt einfach eine Tafel aufzuhängen, verkürze ich die Prüfentfernung und passe den Abstand auf die Sehfähigkeit an. So kann ich die Sehfähigkeit und den Visus besser ermitteln.“
Der Visus als Einheit für gutes Sehen
Der Visus ist die Maßeinheit, die das Sehvermögen angibt. „Das sind nicht exakt die Prozent Sehleistung, die man im Allgemeinen kennt“, präzisiert Adali, „aber man kann sie hilfsweise daraus errechnen. Der Visus gibt an, ob ein Punkt in einem bestimmten Abstand noch sichtbar ist. An der Tafel kann ich für jede noch erkannte Schriftgröße den Visuswert ablesen.“
Folgende Visuswerte sind für ausgewählte Sehaufgaben notwendig:
ca. 0,8: Kleingedrucktes lesen (etwa auf Beipackzetteln)
ca. 0,7: Autofahren
ca. 0,5: Zeitung lesen
ca. 0,4: Fernsehen
ca. 0,3: Straßenschilder erkennen
ca. 0,2-0,3: Haushaltsarbeiten
ca. 0,1: Orientierung im Freien
„Kundinnen und Kunden kommen meist dann zu uns, wenn sie trotz Brille am Limit sind, vor allem, wenn sie Schrift kaum noch erkennen“, erklärt Adali. Mit einer ärztlichen Bescheinigung kann auch die Krankenkasse helfen: „Ab der offiziellen Sehbehinderung bezuschussen die Kassen eine Sehhilfe – bis zu 100 Prozent“. Wichtig sei auch für Augenoptiker den Grund der Sehbehinderung zu erfahren, denn je nach Augenleiden kommen verschiedene Sehhilfen in Frage.
Welche Augenkrankheiten zur Sehbehinderung führen
Die drei häufigsten Augenerkrankungen, die stark eingeschränktes Sehvermögen zur Folge haben, sind nach dem letzten ermittelten Stand 2020:
Altersbedingte Makuladegeneration: fast 7,5 Millionen Betroffene in Deutschland, davon eine halbe Million im Spätstadium
Glaukom (Grüner Star): fast eine Million Betroffene in Deutschland
Diabetische Retinopathie: über eine Million Betroffene in Deutschland
Weitere Erkrankungen betreffen ebenso die Netzhaut oder die Linse, etwa die Retinitis Pigmentosa oder ein unbehandelter Grauer Star.
Diese Krankheiten sind fortschreitend, die Beschwerden stellen sich erst allmählich ein. „Trotzdem empfehlen wir immer, so früh wie möglich an Sehhilfen zu denken“, erklärt Adali. „Nicht weil sie die Krankheit aufhalten, sondern weil es sonst schwieriger wird, Hilfen in den Alltag zu integrieren. Manchmal muss man das Sehen anders erlernen: bei der Makuladegeneration zum Beispiel fällt das zentrale Sichtfeld aus – man sieht also praktisch an der Mitte vorbei.“
Welche Sehhilfen gibt es?
Grundsätzlich stehen verschiedene Lösungen für vergrößernde Sehhilfen zur Auswahl:
Lupen
Lupenbrillen
Elektronisch vergrößernde Sehhilfen
Ergänzend kommen bei schlechtem Kontrastsehen und hoher Lichtempfindlichkeit Kantenfiltergläser zum Einsatz.
Lupen – Standlupen, Handlupen, mit und ohne Beleuchtung
„Standlupen eignen sich sehr gut für das Lesen, zum Beispiel von Zeitungen und Büchern“, erklärt Adali. „Es gibt sie in verschiedenen Stärken als Glasblock, den man über den Text führt, oder mit Gestell, unter das das Schriftstück gelegt wird. Für besseren Kontrast kann man diese Lupen mit einer Beleuchtung ausstatten.“
Handlupen seien eine gute Wahl, wenn keine Tischfläche zur Verfügung stehe: „Das betrifft viele Situationen im Alltag, zum Beispiel, wenn man Preisschilder, Stadt- oder Fahrpläne entziffern möchte. Auch in Handlupen lässt sich Beleuchtung integrieren.“
Lupenbrillen – Hände frei und trotzdem Durchblick
Die ideale Lösung, wenn die Hände frei bleiben sollen, seien Lupenbrillen, so Adali. „Es gibt hier verschiedene Möglichkeiten: Entweder wird auf ein Glas eine Art Fernrohr aufgesteckt, so dass man im Nahbereich alles erkennen kann. Man kann auch die eigene Brille als Sonderanfertigung zu einer Lupenbrille erweitern.“
Elektronische Vergrößerungshilfen – praktisch wie ein Smartphone
Eine teurere, aber sehr praktische Variante seien elektronische Vergrößerungshilfen. „Die stellt man sich wie ein Smartphone oder Tablet vor: Der Text wird auf einem Bildschirm angezeigt und man kann die Vergrößerung taktil regeln. Abstand, Helligkeit, Kontrast und Farben lassen sich einstellen.“ Besonders vorteilhaft sei das größere Sichtfeld: „Man sieht gleich drei Zeilen statt nur einer und kann auch die Zeilenanfänge gut erkennen.“
Kantenfiltergläser – Erleichterung für Lichtempfindliche
Je nach Erkrankung kommt zum eingeschränkten Sehvermögen eine erhöhte Lichtempfindlichkeit oder mangelndes Kontrastsehen hinzu. „Hier helfen Kantenfiltergläser, die bestimmte Lichtfarben eliminieren“, erklärt Adali. „Kurzwelliges Licht mit hohem Blauanteil wird ab einer festgelegten Wellenlänge ausgeblendet. Dadurch sind die Gläser oft stark gelb oder orange getönt. Sie können auch per Überziehbrille genutzt werden.“ Kantenfiltergläser seien zwar nicht verkehrstauglich, weil sie Signalfarben verändern. „Aber bei geringem Sehvermögen ist das Autofahren ohnehin nicht erlaubt.“
Keine Angst vor der Außenwirkung
Gelbe Brillengläser oder Doppelgestelle helfen effektiv, aber häufig begegnen Adali im Beratungsgespräch andere Bedenken: „Manche finden sich mit solchen Hilfsmitteln nicht attraktiv. Dabei nehmen sie in Kauf, im Alltag Nachteile zu haben. Es braucht Geduld und Zugewandtheit, solchen Vorbehalten entgegenzutreten. Die Akzeptanz für Sehhilfen ist viel höher, als man glauben mag.“
Hier helfe oft die Vermittlung an Vereine, in denen es Hilfe und Beratung gebe. „Ich stelle gerne den Kontakt zu Pro Retina oder dem BSVK her“, ergänzt die Augenoptikermeisterin. „Hier kann man sich übrigens auch beraten lassen, wenn die Sicht noch weiter nachlässt, denn irgendwann helfen keine optischen Mittel mehr. Dann bieten sich zum Beispiel Vorlesefunktionen an – viele gibt es mittlerweile auch auf dem Handy.“
Zur Person: Gülsah Adali
Ihre Ausbildung schloss Gülsah Adali 2006 in Bayern ab. Nach Köln kam sie, nachdem sie zwei Jahre als Gesellin gearbeitet hatte, um an der Meisterschule den Abschluss als staatlich geprüfte Augenoptikerin und Augenoptikermeisterin zu erwerben. Im Anschluss entschied sie sich 2010 gegen die klinische Laufbahn und für eine Anstellung bei Optik Müller. Derzeit belegt sie berufsbegleitend den ersten seit der Studienreform eingerichteten Lehrgang zum Master Professional Optometrie im Handwerk, den sie voraussichtlich 2026 abschließen wird. Sie verfügt über eine Zusatzausbildung in Low Vision.
